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Emotionale Achterbahnfahrten beim Langzeit-Reisen

  • Writer: Ray
    Ray
  • Jul 16, 2024
  • 6 min read

“So viele crazy Gefühle, wenn ich an Zuhause denke”, schreibe ich am 14.06.24 in mein Tagebuch. Die heftigsten Sehnsuchtsattacken hatte ich da schon hinter mir. Aber immer wieder kommen ähnliche Gefühle in Wellen in mir hoch, die ich vor allem im Mai gespürt habe. Zu dem Zeitpunkt war ich über vier Monate reisen und habe kürzlich meinen dritten (für mich neuen) Kontinent erreicht und bereist.

Südamerika war richtig hart am Anfang. Ich konnte fast kein Wort Spanisch, es waren schon wieder gefühlt tausend neue Währungen, völlig neue/andere Kulturen, ich kannte Nichts und Niemanden. Alles eigentlich Gründe wofür Menschen (mich eingeschlossen) reisen, aber irgendwie war bei mir die Luft raus. Ich fühlte mich schwach und einsam. Das war sie jetzt also, diese Weltreise. Achja und das war sie jetzt also: diese Reisemüdigkeit.

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Als es nach einigen Wochen nicht wirklich besser wurde, machte May mir klar, dass wir nach Europa fahren können, wenn ich das will. Sie sagte es zwar auch spaßeshalber, aber ich merkte ihr an, dass sie auch müde war und Heimweh hatte. Klar, wäre es möglich. Und irgendwie machte mir das Mut und fühlte sich in einem winzigen Moment so wunderschön erleichternd an, aber ich dachte nicht daran hier aufzugeben, denn so würde sich das anfühlen. Nach aufgeben. Das hier war doch die Chance Momente, Menschen, Dinge, Natur, Kultur zu erleben, die ich noch nie im Leben gesehen hatte. Ich hatte zwar null Bock, aber noch weniger Lust hatte ich einzuknicken. Ich versuchte mich also “zu straffen”, wie eine meiner liebsten Freundinnen es so schön sagen würde. (Im Kopf den Gedanken ‘’Ray straff dich mal!” “Challenge accepted!’’)

Irgendwie funktionierte das mal gut und mal weniger gut, aber weitermachen war auf jeden Fall soweit okay, vor allem auch, weil das der Plan war und ich wollte voll gern wenigstens irgendeinen Halt haben. Denn Halt gibt es extrem wenig beim ewigen unterwegs sein.

Ich glaube Heimweh und Reisemüdigkeit sind grundsätzlich unterschiedliche Dinge, aber irgendwie bedingen sie sich auch gegenseitig, deshalb hab ich sie hier mal zusammen in einen Topf geworfen.

Heimweh fühlt sich für mich nach einem warmen, aber irgendwie trotzdem pieksenden Gefühl an. Es kann ganz plötzlich einschießen, wie wenn ein Mensch sich den Musikantenknochen anstößt und dann kribbelt es auch noch so unangenehm nach. Wenn ich durch fremde Gassen streife und plötzlich ganz widerwillig die Fassaden und löchrigen Gehwege Berlins vor Augen habe. Dann kommt auch die Sehnsucht nach dem Geruch und all den völlig verrückten Leuten, die mich unfreundlich anpöbeln ich solle mal einen Schritt zur Seite gehen. Das kann mir in manchen Augenblicken so heftig doll fehlen, dass ich richtig Druck in der Brust bekomme und vielleicht die ein oder andere Träne dabei verliere. Am heftigsten bekomme ich solche Gefühle aber, wenn ich an meine Liebsten denke. An deren Stimmen, oder wie es ist, wenn wir zusammensitzen und lachen. Dann wird der Schmerz teilweise unaufhaltsam. Trotzdem tut es theoretisch betrachtet auch gut so zu fühlen, weil es mir zeigt, wie viel Liebe und Kostbarkeit ich Zuhause habe.

Reisemüdigkeit wiederum fühlt sich bei mir wie ein schweres Gefühl an und macht alles eher taub. Ich hab so richtig extreme Lustlosigkeit und alles ist mir zu viel. Ich will nicht aufstehen, nichts sehen, hab keine Lust einen Weg rauszusuchen, geschweige denn mit einer fremden Person zu sprechen oder noch schlimmer: um Rat fragen. Alles wirkt irgendwie wie eine unüberwindbare Aufgabe und eigentlich möchte ich einfach nur… nach Hause!

Dort wo mir jeder Weg bekannt ist, wo ich weiß wo ich einen guten Kaffee bekomme (Zuhause!!!), wo mir bekannte Gesichter wohnen, wo ich in meiner kleinen, aber sehr feinen Bubble lebe, wo Menschen ganz genau wissen mit wem sie es zu tun haben, wenn ich um die Ecke biege. Ich muss Zuhause nix erklären, nicht mit Hand und Fuß versuchen zu erläutern was ich gerade suche, brauche oder wer ich bin. Zuhause, das ist sicherlich ein Gefühl, aber es ist auch zu wissen worauf Mensch sich einlässt. Es ist ankommen. Sicher sein. Sich zu 150% wohl- und verstanden fühlen. Sich vielleicht auch mal ein wenig langweilen, weil alles so bekannt ist.

Jetzt fragt ihr euch wie Mensch das unterwegs finden kann. Tja. Ich habs versucht.

Hab ‘Reisemüdigkeit’ bei Google in die Suchleiste eingetippt. Hab nach Trost gesucht. Nach Verständnis. Aber es gab nichts, was ich mir in dem Moment gewünscht hätte, deshalb gebe ich selbst jetzt ein paar Hinweise, was hier womöglich helfen könnte und was auch mir Trost gegeben hätte zu lesen.

Hier können wir Reisemüdigkeit und Heimweh wieder ein wenig verknüpfen. Denn die Dinge, die ich hier nennen werde, helfen meines Erachtens nach bei Beidem.

Gut zu sich selbst sein. Verständnisvoll! Es ist so natürlich, dass wir eines Tages überstimuliert sind. Wenn wir nach einem harten Tag Arbeit müde in eine Ecke fallen und nichts mehr können als schlafen, ist es nach Monaten reisen und jeden Tag tausend neue Dinge sehen/erleben mehr als natürlich, dass unser Gehirn reizüberflutet ist. Sich liebevoll um sich selbst kümmern und sich Ruhe gönnen. Das fällt an einem ultra coolen, neuen Ort schwer, denn auch wenn ich keine Kraft und Lust hab aufzustehen, ist meine innere Stimme meist so stark, mir einreden zu wollen, dass ich doch rausgehen und was erleben muss. Aber was erleben ist bei Reisemüdigkeit genau das Falsche! Außer ich erlebe dann Ruhe, chillen und vielleicht mein liebstes Comfort food, was mich im günstigsten Fall und bei Heimweh auch an Zuhause erinnert. Manchmal helfen auch recht basale Dinge, um einmal ganz runterzufahren: Das kann eine Waschmaschine sein, eine Massage oder (wenn es das Budget zulässt) auch mal ein schönes Hotel und dort ein paar Tage ‘Urlaub’. Denn wir vergessen oft beim Reisen auszuruhen, da es keine Wochenenden und Feiertage mehr gibt. Ein wenig Discomfort ist natürlich immer mal notwendig aber nicht so, dass ich dauerhaft Federn lasse.

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Was ich immernoch täglich übe: die eigenen Gefühle (und die der anderen) validieren. Es muss ok sein, dass ich fühle, wie ich fühle. Nur was gefühlt wird, kann besser werden oder für was neues Platz machen.

Damit meine ich auch, dass Mensch auf die eigenen Signale lernt zu hören. Und wenn ich am ‘schönsten Strand’ der Erde bin, aber mein Körper gibt mir Signale, die gegen Sonne sprechen, brauche ich Niemanden etwas beweisen. Wenn ich es absolut nicht fühle und diesen Strand nur sehe ‘um es getan zu haben’, werde ich einen Tag im Zimmer verbringen, wenn sich das richtig anfühlt.

Sich kleine Inseln der Routinen schaffen, hilft mir Halt zu finden. In meinem Fall ist es Yoga und meine Meditationspraxis, sowie schreiben. May liebt es zu zeichnen oder Reisetagebuch zu schreiben. Irgendetwas was mich in den Moment bringt und mein Nervenkostüm beruhigt. Vielleicht auch mein Lieblings-Getränk mit meiner Lieblingsmusik an einem ruhigen Ort.

Bei Heimweh hilft mir auf jeden Fall der Kontakt zu meinen Liebsten. Ob es ein längeres Gespräch per Chat ist, ein Telefonat oder eine Sprachnachricht. Bei Reisemüdigkeit hat mir der Austausch mit anderen Reisenden gut geholfen, da sie meine Situation am ehesten nachempfinden konnten und es hilft zu hören, wenn es Anderen ähnlich oder sogar genauso geht wie mir.

Ich finde es extrem schwierig nichts zu erwarten oder nicht bestimmte Vorstellungen im eigenen Kopf zu entwerfen. Je mehr ich es schaffe diese Vorstellungen zu verändern und völlig unvoreingenommen bin, desto besser kann ich die Situation annehmen, die auf mich zu kommt. So findet May, dass sie die Orte am schönsten fand, bei denen sie absolut keine Vorstellung hatte, was sie erwarten würde. Wobei wiederum die Orte, an die sie eine Menge Erwartung anknüpfte eher enttäuschend auf sie gewirkt haben. Mir ist klar, dass das teilweise eine unlösbare Aufgabe ist: ‘Hab keine Erwartungen!’ Aber es hilft mein Denken ein bisschen umzustrukturieren oder meine Planung zu verändern.

Rückblickend macht mich das Erlebte ziemlich stolz und gibt mir auch jetzt noch Kraft, von der ich vermutlich noch lange zehren kann. In so heftigen Gefühlslagen in der kompletten Fremde zu sein, sich Emotionen hingeben und überstehen, hat meine Selbstwirksamkeit gestärkt. Ich hab momentan nicht das Gefühl, dass mich kleine bis mittelschwere Erschütterungen einfach aus der Bahn werfen. Ich hab eine kleine empowernde Stimme in meinem Kopf, die bei kleinen Problemchen schnell laut wird und raushaut: ‘Das wird schon werden! Wenn nicht sofort dann vielleicht morgen und sonst ist es auch kein Drama.’ Das tut mega gut, vor allem für ein*e Drama-Quing wie mich! Außerdem hab ich einen kostbaren Schatz von all den kleinen und großen Abenteuern mit nach Hause gebracht.

Die glücklichsten und allerschönsten Erlebnisse sind manchmal die winzigsten Kleinigkeiten.

Ein Kaffee mit dem atemberaubendsten Blick. Wenn das Meer eine besonders schöne Farbe hat und die Wellen wie von Nebel bedeckt aussehen. An einem Ort ankommem, wo der Geruch so vertraut ist. Ein überraschend tiefes Gespräch mit einer fremden Person auf Reisen. Wie nach einem langen Regentag die Sonne durch das Grün funkelt. Wenn mich ein lieber Mensch nach nur 15 Minuten trampen fix mitnimmt und da raus lässt, wo ich beinahe hin muss. Aus tiefstem Herzen lachen. Die Möglichkeit haben, sich in der Natur zu bewegen, wie ich gerade Lust habe.

Das ist auf eine Art abgedroschen, weil schon hundert mal gesagt und festgestellt, aber es ist etwas ganz anderes, wenn ich es nochmal ganz für mich alleine rausfinde und bemerke, wie wenig ich wirklich brauche, um tiefes Glück in Herz, Kopf und Körper zu spüren.

Hinzu kommt die Wertschätzung und Dankbarkeit, die ich in jeden noch so kleinen Glücksmoment lege. Das macht das große Ganze aus. Und wenn ich ganz aufmerksam bin, dann kann ich davon täglich so viele finden.






 
 
 

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